Frau on Tour

08. Nov 2025,

Frau on Tour
Frau on Tour

Das erste Wort heute Morgen um halb sechs zeigte sich nur für ein paar Sekunden, bevor es in den Hintergrund rückte. Das Wort war „Hunger“. Damit meine ich nicht das Gefühl von Appetit, sondern die real-brutale Wirkung von Hunger – das existenzielle Gefühl, das Palästinenser:innen und inzwischen auch Amerikaner:innen real zu spüren bekommen. Davon schreibe ich später einmal.

Das zweite Wort war „Lilith“. Lilith ist eine Figur aus der jüdischen und mesopotamischen Mythologie, die ursprünglich als Dämonin und Kindsmörderin dargestellt wurde. Doch in der modernen Popkultur entwickelte sich der Mythos Lilith zur Ikone weiblicher Rebellion.

Sarah wusste von Lilith – und sie pachtete die mystische Figur als Titel ihrer geplanten Reise, um Musikerinnen auf die Hauptbühne zu holen.

Bei Radiomachern galt früher eine stille, aber eiserne Regel: „Spiele niemals zwei Frauen hintereinander in der Sendung.“ Diese Regel machten sich auch Konzertveranstalter zu eigen. Bis zu dem Jahr, als eine sanfte, stille Kanadierin sie in Frage stellte: Sarah McLachlan.

1996 holte sie sich Paula Cole und Lisa Loeb ins Boot, um gemeinsame Konzerte zu veranstalten – drei Frauen, ein Konzert. Unter dem Label „Lilith Fair“ startete sie eines dieser Abende, und ein Jahr später rollte der Lilith-Fair-Festivalzug los.
Lilith wurde immer bedeutungsvoller, weil Sarah McLachlan und ihre Mitstreiterinnen sich – wie die mystische Figur – dem Gehorchen verweigerten. Die eiserne Regel der Radiomacher und Festivalveranstalter wurde von Lilith Fair endgültig gebrochen.

Geschäftsleute – meist Männer – lieben Zahlen: 16 Millionen US-Dollar Umsatz im Jahr 1996 machten Lilith Fair zum umsatzstärksten Festival Nordamerikas. In den folgenden drei Jahren blieb Lilith Fair konstant unter den Top 20 Festivals. Insgesamt erreichte Lilith Fair rund 1,5 Millionen Besucher:innen bei 130 Stopps und erzielte 52 Millionen US-Dollar Umsatz, von denen 10 Millionen an Frauen-Initiativen gespendet wurden.

Wer stand da alles auf der Bühne? Tracy Chapman, Sheryl Crow, Indigo Girls, Jewel, Missy Elliott, Erykah Badu, Dido, Nelly Furtado, Christina Aguilera, Dixie Chicks – eine Landkarte weiblicher Pop- und Soulkraft, kuratiert nicht nach Quote, sondern nach Qualität und Resonanz. Das Line-up sprengte Genre-Grenzen: Folk neben Hip-Hop, Roots neben R’n’B, Zeitgeist neben Zeitlos. Das Publikum merkte: Vielfalt ist kein Risiko – sie ist das Produkt und die Attraktion.

Was oder wen hat Lilith Fair befreit? Nicht „die Frauen an sich“ – das wäre grössenwahnsinnig –, aber Musikerinnen holte Lilith Fair aus der Nische auf die Hauptbühne.
Vor Lilith lautete die Frage: „Kann man einen Abend nur mit Frauen überhaupt verkaufen?
Danach: „Warum machen wir das nicht öfter?

Anfangs erhielt Lilith Fair kaum finanzielle Unterstützung. Labels, Booker, Sponsoren – allesamt skeptische Verweigerer. Doch dann kamen Zahlen, Geschichten und Gesichter, die sich nicht mehr wegdiskutieren liessen. Und hinter der Bühne wuchs etwas, das jede Branche dringend braucht: Netzwerke statt Konkurrenzrituale. Mentoring im Tourbus, Solidarität auf und hinter der Bühne, das Selbstverständnis, dass „Headliner“ kein Geschlecht hat.

Lilith Fair war auch ein Momentum Kanadas. Wir kennen dieses leise, pragmatische, undramatische „Wir machen’s einfach“ nördlich des 49. Breitengrads. Kein Messias-Pathos, eher Werkbank-Stolz: Wir bauen eine Bühne, wir füllen sie – und wir spenden mit.
Dass heute eine neue Doku („Lilith Fair: Building a Mystery“) wieder hinschaut, passt zur Zeit: Fortschritt ist nie abgeschlossen, er ist Wartungsarbeit.
McLachlan selbst sagt im Rückblick, Lilith sei die Antithese zu den „unsicheren“ Standard-Tourwelten gewesen – und ihre Wut über Backlashs gegen Frauenrechte zeigt, wie aktuell das alles geblieben ist.

Und jetzt die faktische Brille:

Sichtbarkeit:
Wenn du 20 Abende hintereinander siehst, wie Frauen die Mainstage tragen, wird aus „Ausnahme“ schlicht „Normalität“. Das ändert Programmpolitik, Budgets und Medienlogik.

Wirtschaft:
Wer Tickets verkauft und spendet, verschiebt die Moralfrage in die Kostenstelle – sehr effizient. Sponsoren lieben Impact, wenn er messbar ist. Lilith lieferte beides.

Erzählung:
Eine Szene braucht Mythen. Lilith ist einer davon: Wir waren dort, wir haben es gesehen, wir konnten es fühlen. Mythen sind die beste Währung gegen das nächste „Geht nicht.“

Heisst das, der Kampf ist vorbei? Ach, wie mystisch wäre das denn!
Die Antwort ist klar: Nein.
Noch immer fehlen Headlinerinnen auf vielen Festivalplakaten, noch immer hinken Gagen hinterher, noch immer werden Frauen in Rezensionen an Massstäben gemessen, die bei Männern nie auftauchen.
Aber: Die Generation nach Lilith – von Brandi Carlile bis Olivia Rodrigo – steht auf Schultern, die 1997 den Rücken gestreckt haben.
Und Sarah? Bringt neue Musik, reflektiert ihre Spuren – und lässt die nächste Generation vor.
Dass heute ein Dokumentarfilm das Erbe neu ausleuchtet, ist weniger Nostalgie als Starthilfe.

Fazit:
Lass die Frauen machen.
Sie machen das gut – bis besser.
Aber vor allem: völlig anders.
RESPEKT.

0Noch keine Kommentare

Ihr Kommentar
Antwort auf:  Direkt auf das Thema antworten

Ähnliche Beiträge