Toronto To Run To

02. Nov 2025,

Toronto To Run To
Toronto To Run To

Die Ahnung ist bekanntlich der Status des Nichtwissens. Sie ist höchstens eine Vermutung – im besten Fall gestützt durch ein paar Indizien. Nun, am gestrigen Samstagabend wurde ich von Ahnungen verfolgt, als sich die Toronto Blue Jays und die Los Angeles Dodgers zum letzten Spiel, Nummer sieben, im Rogers Centre trafen.

Und in meinen vier Wänden gesellten sich zwei Ahnungen dazu:
„Ich habe wenig Ahnung von Baseball“ und
„Ich habe eine Ahnung, dass die Blue Jays gewinnen werden.“
Beide standen wie löchriger Emmentalerkäse im Raum.

Eine der beiden habe ich inzwischen relativiert – ich habe mich in die Geschichte der Blue Jays und in das Regelwerk des Baseballs eingelesen.
Doch darum geht’s heute nicht.
Es geht um das Fieber.
Das grenzübergreifende Fieber, das seit Game 3 der World Series jeden Sitzplatz besetzt hält.
Das Fieber von Team Canada.
Das Fieber, das seit 1993 immer wieder aufflammt, wenn die Blue Jays auch nur den Hauch einer Chance wittern.

Gestern, am ersten November 2025, hielt ganz Kanada den Atem an – elf Innings lang.
Die Blue Jays, zuletzt 1993 Weltmeister gegen die Philadelphia Phillies, standen kurz vor der Wiederholung des Wunders.
Damals, 1977, traten sie als Expansion-Team an; ihr erstes Heimspiel (im Schneetreiben!) gewannen sie im Exhibition Stadium gegen die Chicago White Sox.
1989 zogen sie in das neue SkyDome um, das 2005 in Rogers Centre umbenannt wurde.

Saturday Night Live

Toronto, Samstagabend, 1. November 2025.
Das Rogers Centre leert sich nicht – es verhallt.
Vier kleine Ziffern auf der Anzeigetafel: 5:4
Nach elf Innings fahren alle hoffnungsvollen Ahnungen davon.
Ein Solo-Homerun von Will Smith, ein letzter Atemzug von Yoshinobu Yamamoto –
und die Dodgers tragen den Pokal davon.
Wir tragen die Scherben.
Es war kein wirkliches Verlieren.
Es war ein Moment, der jedes Kapitel der Wochen zuvor noch einmal aufleuchten ließ.
Bo Bichette hob in Inning drei fast das Dach ab – sein Dreipunkte-Homer jagte Shohei Ohtani aus dem Spiel.
Für einen Moment war 1993 keine Geschichte, sondern Gegenwart.
Dann kam die Neunte: Miguel Rojas glich aus.
Und in der Elften liess Will Smith (!) alle blauen Erwartungen ins Aus schiessen.

Als fast kompletter Laie will ich verstehen, warum dieser Ausgang so schmerzt.
Zurück zu Game 3, nach Los Angeles, in jenes epische Spiel über 18 Innings – so lang, dass man zwischendurch zweimal die Hoffnung und viermal die Ahnung wechseln konnte.
Dodger Freddie Freeman beschloss es per Walk-off; ein zweites Mal in seiner World-Series-Geschichte – ein zweites Mal, dass Toronto knapp zu kurz kam.
Und doch war gerade dieses Achtzehn-Inning-Marathonspiel der Beweis:
Die Blue Jays sind weder Angeber noch Aufgeber.

Game 6 – Toronto

Ein Moment für die Hirnrinde:
Addison Bargers Laser in die Lücke, der Ball verklemmt sich in der Wandpolsterung.
Kein Ausgleich, kein Orkan, nur die sachliche Entsorgung der Erwartungen.
Baseball ist nicht grausam.
Es ist korrekt.
Und genau darin liegt manchmal seine Grausamkeit.

Dass die Jays es so weit geschafft haben, war kein Zufall, sondern eine Generalüberholung der Franchise-Geschichte:
1993 war die letzte grosse Party.
Danach kamen die langen, stillen Jahre.
2015/16 ein kurzes Aufbäumen – dann wieder Ruhe.
Doch 2025 entschied sich Toronto, die Geschichte richtig zu Ende zu erzählen – mit einem wohlverdienten Happy End.

Was bleibt

Baseball entscheidet nicht über Recht, sondern über Ränder:
den Rand der Strike Zone, den Rand der Wandpolsterung, den Rand der Nerven in Inning elf.
Auf diesem schmalen Rand balancierten die Jays gestern heldenhaft.
Max Scherzer öffnete die Tür, Shane Bieber wollte sie schliessen –
bis Smiths Schwung sie weit genug aufstiess, dass Yamamoto hindurchtreten konnte.

Man kann das Pech nennen.
Oder Timing.
Oder einfach: die Mathematik eines Spiels, in dem 27 Outs pro Team eine Ewigkeit sind – und doch zu wenig.

Es gibt Niederlagen, die Leistungen verkleinern.
Die von gestern tut das Gegenteil.
Sie vergrössert:
die Bedeutung von Bichettes Schlag,
die Selbstverständlichkeit eines Guerrero Jr.,
und das stille Wissen in diesem Clubhouse,
dass man Siege und Wunden nie trennen kann.

Sie vergrössert auch eine Stadt,
die gelernt hat, dass Baseball – dieses seltsame, präzise, geduldige Spiel –
unser Temperament ist:
laut, wenn es zählt,
leise, wenn es wehtut.

Wird das heilen?
Ja, aber nicht schnell.
Es heilt, wenn der April wieder nach frisch geschnittenem Rasen riecht.
Wenn ein Rookie im Mai den Ball so sauber trifft,
dass man für eine Sekunde vergisst, wie sich dieser November anfühlte.
Es heilt, wenn die Jays die starken Teile aus 2025 mitnehmen.
Und es heilt, weil sie uns etwas zurückgegeben haben,
das keine Parade ersetzen kann:
Bedeutung.

Gestern haben die Jays verloren.
Heute behalten sie unseren Glauben.
Morgen zählen wir wieder Strikes und Bälle –
und irgendwann sitzt eine andere Mannschaft im Auswärts-Dugout
und spürt, was die Dodgers gestern spürten:

Dass man Toronto niemals sicher hat.
Nicht in Inning drei.
Nicht nach achtzehn.
Nicht nach zehn.
Und nicht, wenn die Stadt blau leuchtet.

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